Aus dem Italienischen übersetzt in Grenzenlos, Nr. 2, anarchistische Zeitschrift, Zürich, Januar 2012. Überarbeitet April 2013
Wir sind das 1%
Wir haben euch gesehen. Wir haben euch gehört. Ihr seid nun überall. Wir wissen wer ihr seid. Ihr seid die 99%, die gegen die Exzesse des Kapitalismus und die Missbräuche des Staates protestieren. Ihr seid die 99%, die Wahlreformen, soziale Alternativen, ökonomische Subventionen und politische Massnahmen fordern. Ihr seid die 99%, die fürchten, ihre Zukunft zu verlieren, nicht mehr in der Lage zu sein, zu leben, wie ihr es bis anhin getan habt: ein Job, ein Gehalt, eine Hypothek, eine Pension. Im schlechtesten Fall sich mehr oder weniger durchschlagen. Im besten Fall eine Karriere machen. Das ist, was ihr fordert. Ihr wollt die “Krise” nicht bezahlen, ihr wollt, dass alles wieder so wird, wie es vorher war. Dass niemand eure Bildschirme abschaltet, die euer Leben Tag für Tag jeglicher Bedeutung und Emotion beraubt und es zur Tristheit des Überlebens verurteilt haben. Und all das fordert ihr von den Regierungen und den Banken. Denn Demokratie heisst: Regierende, die sich nicht für die Macht interessieren, sondern für das Allgemeinwohl, Banker die sich nicht für den Profit interessieren, sondern für das Glück der Bevölkerung. Wie in den Märchen, wie in den Filmen.
In Erwartung eines Happy End's, das sich hinauszögert, toleriert ihr es nicht, wenn jemand eure verblendete Resignation nicht teilt. Von Madrid bis Athen, von Rom bis Portland, seid ihr bereit, jene Wütenden zu stoppen, zu verraten und niederzuschlagen, die in den Institutionen nicht die Garanten der Freiheit, sondern die Gründe des Elends und der Unterdrückung sehen. Rache, Vendetta, wisst ihr nur in der Fiktion zu schätzen, unter der Maske bevorzugt ihr die Unterwerfung. Angesichts einer ebenso verhassten wie verfaulten Gesellschaft kämpft ihr für einen zivilen, bemessenen und artigen Protest. Ein Protest, der immer auf eurem Niveau bleiben wird: auf den Knien.
Wir wissen jetzt, wer das 1% ist, das ihr so hasst. Mit euren Schutzketten, mit euren Ordnungsdiensten, mit euren Denunziationen habt ihr allen verständlich gemacht, wer euer wirklicher Feind ist. Es ist sicherlich nicht die herrschende Klasse, an die ihr euch respektvoll wendet. Wir sind es. Wir, die keinen Staat zu verteidigen oder zu verbessern haben. Wir, die keinen Markt zu schützen oder auszuschöpfen haben. Wir, die keine Autorität weder ausüben noch erfahren wollen. Wir, für die das Leben nicht auf eine abzustempelnde Stechkarte oder auf ein zu schützendes Bankkonto reduzierbar ist. Wir, für die die “Krise” nicht mit den jüngsten Börsenspekulationen oder mit der Unfähigkeit von jenen, die heute im Parlament sitzen, begonnen hat, sondern mit dem Leben in eben dieser Gesellschaftsordnung in all ihren Aspekten. Wir, für die alle Tage prekär sind in dieser Welt, die wir nicht gewollt haben, in der wir uns nie wiedererkannt haben, und die uns erstickt.
Wir wollen nichts mit euren 99% zu tun haben. Mit eurer Forderung nach einem gemässigten Kapitalismus und einem korrekten Staat. Mit eurem politischen Voranschreiten, das die Macht und das Privileg auf die Ausmasse einer Kreditkarte reduziert. Mit euren städtischen Zeltlagern von nostalgischen Pfadfindern. Mit eurer Identifizierung eines Gegners, des Ursprungs der “Ungerechtigkeit", der immer verschwommener, immaterieller und mehr ausser unserer Reichweite ist. Mit euren Armen, die immer empfänglicher sind für Politiker, Industrielle und Hüter, und immer harscher gegen die Rebellen. Mit euren immer schwächeren Aktionen, die bloss zu einem lauwarmen Zwischenspiel des Status Quo geworden sind. Nein, wir wollen eure Reformen, euren Kollaborationismus, eure entfremdenden Jobs, eure linken [1] Forderungen nicht, die so oft wiederaufgewärmt wurden, dass sie zum Erbrechen sind.
Wir wissen, was die wirklichen Ursprünge der Leiden sind, die wir erfahren: die Herrschsucht, der Kult des Geldes, aber auch die Gehorsamkeit, die sie erwarten und erhalten. Diese Ursprünge werden in den alltäglichen Leben der Menschen durch Handlungen, Gesten und Beziehungen aufrechterhalten, die sich innerhalb einer Gesellschaft, in der wir uns überall als Fremde fühlen, verweben. Und diese Ursprünge – die zurückgewiesen, desertiert und zerstört werden müssen – haben in eurer Bewegung Obdach gefunden. Wir haben uns mit 99% unseres modernen Lebens noch nie wohl gefühlt, das in der Schlange stehend verbracht wird, um Krümel zu erbetteln, und trotzdem beharrt ihr darauf, 99% des Problems zu verteidigen. Wir werden unsere Möglichkeiten wo anders ergreifen. Durch die Hoffnungen, die Träume und die Handlungen, die eure Verurteilung verdient haben.
Was euch betrifft, setzt eure Kreuzfahrt durch den Ozean der universellen Empörung nur fort. Hisst eure Segel und überlasst das Tau den Bürokraten und den Polizisten. Teilt den Raum und die Luft mit dem Abschaum, der das Leben auf diesem Planeten so unlebbar gemacht hat. Lauft aus, einem neuen Morgen entgegen, mit dem Heck noch immer voll mit der Scheisse von Gestern. Wir werden nicht auf euer Schiff steigen, wir werden höchstenfalls davon herabsteigen. Wir werden auf unseren Flossen bleiben, die ihr so verachtet, weil sie zu klein und zu leicht sind.
Aber passt auf. Ein Schiff, das mit unseren Feinden an Board fährt, ist eine zu schöne Gelegenheit, um sie sich entgehen zu lassen. Ihr lacht? Ihr fürchtet uns nicht, weil wir nicht die Stärke haben, um euch zu entern? Dann habt ihr uns missverstanden. Wir wollen euch mit eurer ganzen Todesfracht untergehen lassen. Dazu braucht es keine gigantische Flotte, ein Brander reicht aus. Klein und leicht.
[1] Anm.d.Ü.: Ein Wortspiel im Italienischen: sinistre bedeutet "von der Linken" sowie "erschreckend"