Title: Zehn Dolchstiche gegen die Politik
Notes: Publiziert in Il Pugnale, einmalige anarchistische Zeitschrift, Italien, Mai 1996. Übersetzt in A Corps Perdu, internationale anarchistische Zeitschrift, Nr. 1, 2008. Überarbeitet aus dem Italienischen, April 2013.

Politik ist die Kunst der Trennung. Da, wo das Leben seine Fülle verloren hat, da, wo das Denken und Handeln der Einzelnen aufgeteilt, katalogisiert und in abgetrennten Bereichen eingeschlossen wird – da beginnt die Politik. Während sie gewisse Tätigkeiten der Individuen (die Diskussion, den Konflikt, die gemeinsame Entscheidung, die Abmachung) in einen Bereich für sich entfernt hat, der – gestützt auf seine Unabhängigkeit – den Anspruch hat, über alle anderen zu regieren, ist die Politik gleichzeitig eine Trennung unter den Trennungen und die hierarchische Verwaltung der Getrenntheit. Sie erweist sich somit als Spezialisierung, die gezwungen ist, das ungelöste Problem der eigenen Funktion in die notwendige Voraussetzung zu verwandeln, um alle Probleme zu lösen. Eben deshalb ist die Rolle der Berufspolitiker unbestreitbar – und alles, was man tun kann, ist, sie von Zeit zu Zeit auszutauschen. Jedes Mal, wenn die Subversiven akzeptieren, die verschiedenen Momente des Lebens aufzutrennen und die bestehenden Verhältnisse – ausgehend von dieser Trennung – zu verändern, werden sie zu den besten Verbündeten dieser Weltordnung. Gerade weil sie danach strebt, eine Art Grundbedingung des Lebens selbst zu sein, flösst die Politik überall ihren tödlichen Atem ein.


Politik ist die Kunst der Repräsentation. Um die Verstümmelungen zu regieren, die dem Leben zugefügt wurden, zwingt sie die Individuen in die Passivität, in die blosse Kontemplation des Spektakels, das auf der eigenen Unmöglichkeit, zu handeln, auf der verantwortungslosen Delegation der eigenen Entscheidungen inszeniert wird. Während also der Verzicht auf den Willen, sich selbst zu bestimmen, die Einzelnen in Fortsätze der Staatsmaschinerie verwandelt, setzt die Politik die Gesamtheit der Fragmente in einer falschen Einheit wieder zusammen. So feiern Macht und Ideologie ihre unheilvolle Vermählung. Wenn die Repräsentation das ist, was den Individuen die Fähigkeit entreisst, zu handeln, während sie ihnen als Gegenleistung die Illusion bietet, Teilnehmer und nicht bloss Zuschauer zu sein, dann zeigt sich diese Dimension des Politischen überall dort wieder, wo irgendeine Organisation die Einzelnen verdrängt und irgendein Programm sie in der Passivität festhält. Sie zeigt sich überall dort wieder, wo eine Ideologie das vereint, was sich im Leben gegenübersteht.


Politik ist die Kunst der Mediation. Zwischen der angeblichen Gesamtheit und den Einzelnen, und zwischen den Individuen. Sowie der göttliche Wille seine irdischen Interpreten und Repräsentanten braucht, so braucht die Kollektivität ihre Delegierten. Sowie in der Religion nicht Beziehungen zwischen Menschen, sondern nur zwischen Gläubigen existieren, so sind es in der Politik nicht die Individuen, die sich begegnen, sondern die Bürger. Die Zugehörigkeitsbanden verhindern die Vereinigung, weil nur in der Differenz die Trennung verschwindet. Die Politik macht uns alle gleich, da es in der Knechtschaft keine Unterschiede gibt – Gleichheit vor Gott, Gleichheit vor dem Gesetz. Darum ersetzt die Politik den wirklichen Dialog, der die Mediation negiert, mit ihrer Ideologie. Der Rassismus ist die Zugehörigkeit, die die direkten Beziehungen zwischen den Einzelnen verhindert. Jede Politik ist eine Simulation von Zugehörigkeit. Jede Politik ist rassistisch. Nur, wenn wir ihre Schranken in der Revolte zerstören, können wir den Anderen in ihrer Einzigartigkeit begegnen. Ich revoltiere, also sind wir. Aber wenn wir sind, adieu Revolte.


Politik ist die Kunst des Unpersönlichen. Jede Handlung ist einzig und besonders. Sie ist wie der Augenblick eines Funkens, der der Ordnung des Allgemeinhaften entflieht. Die Politik ist die Verwaltung dieser Ordnung. «Was soll denn eine Handlung schon ausmachen angesichts der Komplexität der Welt?» So argumentieren die Eingeschläferten mit der doppelten Schläfrigkeit eines Man, das niemand ist, und eines Später, das niemals kommt. Die Bürokratie, treue Dienerin der Politik, ist das verwaltete Nichts, damit Niemand zu handeln vermag. Damit niemand die eigene Verantwortung in der generalisierten Verantwortungslosigkeit wieder erkennt. Die Macht sagt nicht mehr, dass sie alles unter Kontrolle hat, sie sagt stattdessen: «Wenn es nicht einmal ich schaffe, eine Lösung zu finden, dann geschweige denn jemand anders.» Die demokratische Politik stützt sich nunmehr auf die katastrophale Ideologie der Dringlichkeit («Entweder wir oder der Faschismus, entweder wir oder der Terrorismus, entweder wir oder das Unbekannte»). Das Allgemeinhafte, auch das antagonistische, ist stets etwas abstraktes, etwas, das nie passiert, und das alles weg löscht, was passiert. Die Politik lädt alle dazu ein, am Spektakel dieser Standardbewegungen teilzunehmen.


Politik ist die Kunst der Vertagung. Ihre Zeit ist die Zukunft, und eben deshalb hält sie alle in einer elendigen Gegenwart gefangen. Alle gemeinsam, aber Morgen. Jeder, der «Ich und Jetzt» sagt, ruiniert mit dieser Ungeduld, dieser Überschwänglichkeit an Verlangen, die Ordnung des Wartens. Warten auf ein Ziel, das aus der Verfluchung des Spezifischen hervortritt. Warten auf eine Gruppe, in der man die eigenen Entscheidungen keiner Gefahr aussetzt und die eigenen Verantwortungen versteckt. Warten auf ein angemessenes quantitatives Wachstum. Warten auf messbare Resultate. Warten auf den Tod. Die Politik ist der permanente Versuch, das Abenteuer in die Zukunft zu verlegen. Doch nur wenn «Ich und Jetzt» entscheide, kann es ein Wir geben, das nicht der Raum einer gegenseitigen Entsagung, die Lüge ist, die den einen zum Kontrolleur des anderen macht. Wer unverzüglich handeln will, wird stets mit Misstrauen betrachtet. Wenn dies kein Provokateur ist, sagt man, so wirkt er zumindest wie einer. Aber der Augenblick einer Handlung und einer nicht vertagbaren Freude ist das, was uns zum nächsten Morgen trägt. Ohne fixierten Blick auf die Zeiger der Uhr.


Politik ist die Kunst des Kompromisses. Während man jeden Tag darauf wartet, dass die Bedingungen reif sind, endet man früher oder später damit, sich mit den Bossen des Wartens zu verbünden. Im Grunde liefert die Vernunft, die das Organ das Aufschubs und der Vertagung ist, immer einige gute Gründe, um eine Einigung zu finden, um die Schäden zu begrenzen, um einige Details eines Ganzen zu retten, das man verachtet. Die politische Vernunft hat scharfe Augen, wenn es darum geht, Allianzen aufzuspüren. Nicht alles ist dasselbe, sagt man uns. Rifondazione Comunista sind gewiss nicht wie diese kriecherische und gefährliche Rechte (Bei den Wahlen werden sie nicht gewählt – schliesslich enthalten wir uns den Wahlen –, aber die Bürgerkomitees, die Initiativen auf der Strasse sind etwas anderes). Das öffentliche Gesundheitswesen ist doch noch immer besser als die private Versorgung. Ein garantierter Mindestlohn ist doch noch immer der Arbeitslosigkeit vorzuziehen. Die Politik ist die Welt des weniger schlimmen. Und während man sich mit dem geringeren Übel abfindet, akzeptiert man Stück für Stück jenes Ganze, in dessen Innern nur Vorlieben gewährt werden. Wer aber von diesem geringeren Übel nichts wissen will, ist ein Abenteurer. Oder ein Aristokrat.


Politik ist die Kunst der Berechnung. Damit die Allianzen profitabel sind, muss man die Geheimnisse seiner Verbündeten verstehen. Die politische Berechnung ist das erste Geheimnis. Man muss wissen, worauf man sich einlässt. Man muss detaillierte Auflistungen der Anstrengungen und der erreichten Resultate erstellen. Und durch das viele Bemessen von dem, was man hat, gewinnt man schliesslich alles, ausser den Willen, es aufs Spiel zu setzen und zu verlieren. So ist man immer bei sich, aufmerksam und bereit, die Rechnung zu verlangen. Mit dem Blick auf das fixiert, was uns umgibt, vergessen wir uns nie selbst. Wachsam wie die Polizisten. Wenn die Selbstliebe überläuft, fordert sie, verstreut zu werden. Und diese Überschwänglichkeit an Leben lässt uns uns selbst vergessen, lässt uns, in der Spannung des Tatendrangs, die Berechnung verlieren. Aber das Vergessen seiner selbst ist das Verlangen nach einer Welt, in der es der Mühe wert ist, sich zu verlieren, nach einer Welt, die unser Vergessen verdient. Und dies ist, weshalb die Welt, so wie sie ist, verwaltet von Aufsehern und Buchhaltern, zerstört werden muss – um der Verschwendung von uns selbst Raum zu verschaffen. Hier beginnt der Aufstand. Die Berechnung zurück lassen, aber nicht aus Mangel (wie es jener Humanitarismus rät, der sich, Schritt für Schritt, schlussendlich immer mit dem Henker verbündet), sondern aus Exzess. Hier endet die Politik.


Politik ist die Kunst der Kontrolle. Damit sich die menschliche Tätigkeit nicht von den Fesseln der Pflicht und der Arbeit befreit, um sich in ihrem ganzen Potenzial zu entfalten. Damit sich die Arbeiter nicht als Individuen begegnen und nicht aufhören, sich ausbeuten zu lassen. Damit sich die Studenten nicht entscheiden, die Schulen niederzureissen, um selbst zu wählen, wie, wann und was sie lernen wollen. Damit sich die Familienangehörigen nicht ineinander verlieben und nicht aufhören, kleine Diener eines kleinen Staates zu sein. Damit die Kinder nichts anderes sind als eine unvollständige Kopie der Erwachsenen. Damit man die Unterscheidung zwischen Guten (Anarchisten) und Bösen (Anarchisten) nicht beseitigt. Damit es nicht die Individuen sind, die Beziehungen haben, sondern die Waren. Damit man sich der Autorität nicht widersetzt. Damit man sich, wenn jemand die staatlichen Strukturen der Ausbeutung angreift, beeilt, zu sagen, dass «dies nicht das Werk unserer Leute ist.» Damit die Banken, die Gerichte und die Kasernen nicht in die Luft fliegen. Kurzum, damit sich das Leben nicht ausdrückt.


Politik ist die Kunst der Rekuperation. Die effizienteste Methode, um jegliche Rebellion, jegliches Verlangen nach wirklicher Veränderung zu entmutigen, ist einen Staatsmann als Subversiven hinzustellen, oder – besser noch – einen Subversiven in einen Staatsmann zu verwandeln. Nicht alle Staatsmänner werden von der Regierung bezahlt. Es gibt Funktionäre, die nicht im Parlament sitzen, und auch nicht in seinen Nebenzimmern; im Gegenteil, sie frequentieren die sozialen Zentren und kennen insgeheim die wichtigsten revolutionären Thesen. Sie disputieren über das befreiende Potential der Technologie, theoretisieren nicht-staatliche, öffentliche Sphären und die Überwindung des Subjekts. Die Realität – das wissen sie gut – ist immer viel komplexer als jegliche Aktion. Wenn sie sich also eine allumfassende Theorie wünschen, dann ist das nur, um sie im alltäglichen Leben gänzlich zu vergessen. Die Macht benötigt sie, denn – wie sie selbst uns belehren –, wenn sie niemand kritisiert, kritisiert sich die Macht von selbst.


Politik ist die Kunst der Repression. Gegen all jene, die die verschiedenen Momente des eigenen Lebens nicht auftrennen und die bestehenden Verhältnisse ausgehend von der Gesamtheit ihrer Träume verändern wollen. Gegen all jene, die die Passivität, die Kontemplation und die Delegation durchbrechen wollen. Gegen all jene, die sich weder von irgendeiner Organisation verdrängen, noch durch irgendein Programm blockieren lassen. Gegen all jene, die unmittelbare Beziehungen zwischen Individuen haben wollen und aus der Differenz den eigentlichen Raum für die Gleichheit machen. Gegen all jene, die kein Wir haben, auf das sie schwören. Gegen all jene, die die Ordnung des Wartens stören, weil sie sich unverzüglich auflehnen wollen, nicht Morgen oder Übermorgen. Gegen all jene, die sich ohne Gegenleistung hingeben und sich aus Exzess verlieren. Gegen all jene, die ihre Kameraden mit Liebe und Entschlossenheit verteidigen. Gegen all jene, die den Rekuperateuren eine einzige Möglichkeit lassen: die, zu verschwinden. Gegen all jene, die sich weigern, unter der zahllosen Schar von Schurken und Eingeschläferten Platz zu nehmen. Gegen all jene, die weder regieren noch kontrollieren wollen. Gegen all jene, die die Zukunft in ein faszinierendes Abenteuer verwandeln wollen.